Donnerstag, 24. Oktober 2013

Caning?



Gedanken zum "Caning" 

In einem Land wie Ghana verliert man hin und wieder das Gefühl für Raum und Zeit. Zwei Dinge scheinen hier keine Tätigkeit zu sein, sondern eine Lebenseinstellung – das Warten und das Lachen. Und bald findet man sich selbst wieder im angenehmen Bad der Gelassenheit, misst den eigenen Überlegungen weniger Bedeutung bei, wirft Überzeugungen über Bord. Ghana gibt einem die Chance, das Unwichtige vom Wichtigen zu trennen. Denn es rüttelt einen immer wieder auf. Gerade, wenn man meint, es sich gemütlich gemacht zu haben im „ghanaian way of life“, wechselt sich seine Laune, stößt es einen vor den Kopf und lässt einen ratlos zurück.

Einer dieser Momente ist die Konfrontation mit dem sogenannten „Caning“, die in dem Großteil der Klassenzimmer nachwievor übliche Prügelstrafe mit dem Stock. Dem Reisenden fällt es leicht, diese Tatsache auszublenden, denn er wird kaum damit in Berührung kommen. Wer jedoch entschieden hat, in Ghana zu leben, der merkt nach einer Weile, dass dieses Thema weitaus mehr Lebensbereiche berührt als den Klassenraum. Auch hier kommt eine der vielen ineinander verzahnten Facetten der ghanaischen Mentalität zum Ausdruck.
Obwohl gesetzlich verboten, ist es an nahezu jeder Schule üblich, zur Disziplinierung den Stock einzusetzen. Ob die Schule einen privaten oder staatlichen Träger hat, bildet hier keinen Unterschied, und auch das Klischee des prügelnden cholerischen Lehrers will nicht recht zur Realität passen. So verschieden die Lehrer in ihrer Art auch sein mögen, einen Cane besitzen sie alle. Der Umfang der Anwendung kann wiederum recht unterschiedlich ausgeprägt sein. Während einige Lehrer diesen relativ häufig schon bei kleinsten Vergehen anwenden, wenden ihn Viele nur in besonderen Fällen und eher „sanft“ an.
Für deutsche Ohren klingt dies schockierend, schließlich ist bei uns jegliche körperliche Gewalt verpönt und eine liberale Erziehung üblich. Dass noch vor hundert Jahren auch an deutschen Schulen geprügelt wurde, ist im Bewusstsein der heutigen Gesellschaft kaum noch präsent. Man ist stolz auf den Fortschritt, Länder wie Ghana scheinen dagegen noch auf einer niedrigeren „Seinsstufe“ zu stehen. Doch je länger man eintaucht in Ghanas Kultur, desto mehr muss man einsehen, dass diese Erklärung um Einiges zu kurz greift. Dass sie eher eine eine Erklärung ist für unseren größten Schwachpunkt – die Arroganz. Und dass die wirkliche Auseinandersetzung mit dem Thema „Caning“ erfordert, sich so unabhängig wie möglich von seinem gewohnten Wertesystem zu machen.
Agnes Pokua ist 24 Jahre alt und arbeitet seit zwei Jahren als Lehrerin in der kleinen Stadt Agona Swedru. Sie strahlt eine bemerkenswerte Ruhe aus, in ihrem Gesicht scheint stets ein feines zurückhaltendes Lächeln zu liegen. Die Schüler der Vorschulklasse, die sie unterrichtet, mögen sie gern, sie haben Respekt vor ihr. Dies scheint weniger an dem Cane in ihrer Hand, als an ihrem Auftreten zu liegen.
Trotzdem reagiert Agnes wie die meisten ihrer Kollegen belustigt auf den Vorschlag, alternative Bestrafungsmethoden in Betracht zu ziehen. Tatsächlich ist unter ihnen die Vorstellung verbreitet, europäische Kinder müssten fleißiger und braver sein, da sie keinen Stock benötigen. Ironischerweise ist gerade in Deutschland die Auffassung verbreitet, es gäbe so etwas wie den Prototyp des „afrikanischen Kindes“, das nichts lieber macht, als dankbar zu lernen.
In der Realität gibt es an jedem Ort die fleißigen, die frechen, die schüchternen Kinder. Agnes lässt sich davon wenig beeindrucken. „These africant children want the cane“, behauptet sie schlicht.
Was sich zunächst etwas ignorant anhört, scheint in der Praxis tatsächlich einen Teil der Wahrheit zu treffen. So lässt sich öfters beobachten, dass ein Kind nicht bereit ist, sich bei einem anderen Kind zu entschuldigen. Indem es den Cane in Kauf nimmt, kann es Stärke demonstrieren und seinen Stolz bewahren, und so tun die meisten Kinder das Geschlagenwerden mit einem kurzen Lachen ab.
Auffällig ist die darauf zurückzuführende gesteigerte Gewaltbereitschaft der Kinder untereinander. Gewalt ist allgemein anerkanntes Mittel zum Zweck. Schnell wird sich gegenüber Kleineren als Ordnungshüter postuliert, Konflikte werden mit Fäusten ausgetragen, der Stärkere gewinnt. Über die eigentliche Ursache von Konflikten oder den Sinn der Aufstellung von Regeln wird nicht gesprochen, Selbstkritik spielt keine Rolle.
Wie wirkt sich so eine Einstellung auf eine Gesellschaft aus?
Es ist ein typischer, zäh dahin fließender Nachmittag in Agona Swedru ohne besondere Ereignisse, als sich plötzlich eine gespenstische Szene beobachten lässt. Aus dem Nichts entsteht lautstarkes Geschrei, eine aufgebrachte Meute bewaffnet mit Stöckern und Steinen treibt zwischen sich einen nackten Menschen her. Dies sind Momente, in denen man als Ausländer an seine Grenzen stößt. Die eigene Fremdheit wird einem wieder schmerzlich bewusst. Der Mob verschwindet schließlich in einer Seitenstraße und als wäre nichts geschehen, beruhigt sich die Szenerie, die Straße fällt zurück in ihren schläfrigen Zustand. Nach dem Grund des Geschehenes gefragt, gibt der einzige Auskunftswillige zurück, der Mann habe eine Ziege gestohlen. Dafür wurden ihm die Kleider vom Leib gerissen und er durch die Stadt gejagt. „He won't do it again“, ist die schlichte Erklärung. Eine ghanaische Bekannte bestätigt, dass dies gängig sei in Ghana. Diebe, die straffällig geworden sind, würden auch mitunter umgebracht.
Beinahe mehr als dieser Umstand an sich verstört die Tatsache, dass sich niemand an diesem Vorgehen zu stoßen scheint. „This is not Germany!“ – immer wieder begegnet einem dieser Satz und bildet eine scheinbar unüberwindbare Barriere. Man muss sich Fragen stellen, wie: Was für eine Bedeutung hat hier eigentlich eine Ziege? Und was für eine Bedeutung hat das Leben irgendeines einzelnen Mannes? Aber auch – ist es wichtiger, ob eine Gesellschaft funktioniert, oder auf welche Art und Weise?
Es ist schwer, als Außenzustehender zu sagen, was Willkür und was lediglich eine völlig andere Form von Recht ist. Letzten Endes bleibt man immer in den Wänden seines persönlichen Anschauunsapparates gefangen. Dass es etwas gänzlich Anderes, das man weder richtig verstehen noch nachfühlen kann, dennoch geben kann, ist schwer nachzuvollziehen.
Die Menschen hier scheint das Caning und seine Auswirkungen nicht schwächer gemacht zu haben. Im Gegenteil wirken sie insgesamt zufriedener mit sich und stolzer. Gesunder Stolz ist bei uns eine in Vergessenheit geratene Sache. Mit all den Medien, Zeitschriften und Netzwerken, in denen ständig verglichen und verurteilt wird, scheint es schwer zu fallen, sich noch selbst auf natürliche Weise wertzuschätzen, ohne andere herabzusetzen oder arrogant zu wirken.
Woher also kommt diese Haltung hier? Die Gründe dafür mögen vielfältig und vom Einzelfall abhängig sein, und doch gibt es einige Dinge, die auffallen.
Zum Einen ist da der bereits angesprochene geringe Hang zur Selbstkritik, der sich durchaus auch positiv auswirken kann. Denn im Gegensatz zum Caning wird den Kindern im Unterricht auf der anderen Seite auch sehr oft das Selbstwertgefühl gestärkt. Für gute Antworten wird applaudiert, der Lehrplan schreibt vor, dass sie lernen sollen, Dinge zu nennen, die sie an sich mögen.
Ein anderer bedeutender Grund scheint auch der Glaube zu sein, der hier eine sehr große Rolle spielt. Dieser ist nahezu überall präsent, sei es im Religionsunterricht, in fünf Stunden langen Gottesdiensten am Wochenende, Andachten in der Schule und gemeinsamen Gebeten zu vielfältigen Anlässen. Als Atheist wird man mit Missionierungsversuchen oder Mitleidsbekundungen und mindestens mit Unverständnis konfrontiert.
Auch dieses Gottvertrauen ist als Außenstehender wieder schwer nachzuvollziehen. Aber sicherlich kann ein Gefühl von Sicherheit und Zugehörigkeit, Zweifel beiseite schieben, ob man selbst und sein Lebensweg seine Richtigkeit hat.
Letzten Endes ist es schwer zu resümieren, was im Bezug auf das Caning nun richtig oder falsch ist. Auf jeden Fall darf man das Caning, bloß weil bei uns undenkbar, nicht mit Unmoralität oder gar einem schlechten Charakter des Ausübenden gleichsetzen.
Man muss sich wie so oft im Leben bewusst machen, dass man bestimmte Verhaltensweisen nie getrennt für sich alleinstehend betrachten darf, sondern diese immer abhängig sind von ihrem Kontext. Mein Großvater, einer der letzten Zeugen der Zeit, als Deutschland noch den Stock benutze, formuliert das lapidar so: „Früher waren die Leute entsetzt, wenn man nicht prügelte. Heute sind sie es, wenn man schon prügelt.“

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