Donnerstag, 24. Oktober 2013

Caning?



Gedanken zum "Caning" 

In einem Land wie Ghana verliert man hin und wieder das Gefühl für Raum und Zeit. Zwei Dinge scheinen hier keine Tätigkeit zu sein, sondern eine Lebenseinstellung – das Warten und das Lachen. Und bald findet man sich selbst wieder im angenehmen Bad der Gelassenheit, misst den eigenen Überlegungen weniger Bedeutung bei, wirft Überzeugungen über Bord. Ghana gibt einem die Chance, das Unwichtige vom Wichtigen zu trennen. Denn es rüttelt einen immer wieder auf. Gerade, wenn man meint, es sich gemütlich gemacht zu haben im „ghanaian way of life“, wechselt sich seine Laune, stößt es einen vor den Kopf und lässt einen ratlos zurück.

Einer dieser Momente ist die Konfrontation mit dem sogenannten „Caning“, die in dem Großteil der Klassenzimmer nachwievor übliche Prügelstrafe mit dem Stock. Dem Reisenden fällt es leicht, diese Tatsache auszublenden, denn er wird kaum damit in Berührung kommen. Wer jedoch entschieden hat, in Ghana zu leben, der merkt nach einer Weile, dass dieses Thema weitaus mehr Lebensbereiche berührt als den Klassenraum. Auch hier kommt eine der vielen ineinander verzahnten Facetten der ghanaischen Mentalität zum Ausdruck.
Obwohl gesetzlich verboten, ist es an nahezu jeder Schule üblich, zur Disziplinierung den Stock einzusetzen. Ob die Schule einen privaten oder staatlichen Träger hat, bildet hier keinen Unterschied, und auch das Klischee des prügelnden cholerischen Lehrers will nicht recht zur Realität passen. So verschieden die Lehrer in ihrer Art auch sein mögen, einen Cane besitzen sie alle. Der Umfang der Anwendung kann wiederum recht unterschiedlich ausgeprägt sein. Während einige Lehrer diesen relativ häufig schon bei kleinsten Vergehen anwenden, wenden ihn Viele nur in besonderen Fällen und eher „sanft“ an.
Für deutsche Ohren klingt dies schockierend, schließlich ist bei uns jegliche körperliche Gewalt verpönt und eine liberale Erziehung üblich. Dass noch vor hundert Jahren auch an deutschen Schulen geprügelt wurde, ist im Bewusstsein der heutigen Gesellschaft kaum noch präsent. Man ist stolz auf den Fortschritt, Länder wie Ghana scheinen dagegen noch auf einer niedrigeren „Seinsstufe“ zu stehen. Doch je länger man eintaucht in Ghanas Kultur, desto mehr muss man einsehen, dass diese Erklärung um Einiges zu kurz greift. Dass sie eher eine eine Erklärung ist für unseren größten Schwachpunkt – die Arroganz. Und dass die wirkliche Auseinandersetzung mit dem Thema „Caning“ erfordert, sich so unabhängig wie möglich von seinem gewohnten Wertesystem zu machen.
Agnes Pokua ist 24 Jahre alt und arbeitet seit zwei Jahren als Lehrerin in der kleinen Stadt Agona Swedru. Sie strahlt eine bemerkenswerte Ruhe aus, in ihrem Gesicht scheint stets ein feines zurückhaltendes Lächeln zu liegen. Die Schüler der Vorschulklasse, die sie unterrichtet, mögen sie gern, sie haben Respekt vor ihr. Dies scheint weniger an dem Cane in ihrer Hand, als an ihrem Auftreten zu liegen.
Trotzdem reagiert Agnes wie die meisten ihrer Kollegen belustigt auf den Vorschlag, alternative Bestrafungsmethoden in Betracht zu ziehen. Tatsächlich ist unter ihnen die Vorstellung verbreitet, europäische Kinder müssten fleißiger und braver sein, da sie keinen Stock benötigen. Ironischerweise ist gerade in Deutschland die Auffassung verbreitet, es gäbe so etwas wie den Prototyp des „afrikanischen Kindes“, das nichts lieber macht, als dankbar zu lernen.
In der Realität gibt es an jedem Ort die fleißigen, die frechen, die schüchternen Kinder. Agnes lässt sich davon wenig beeindrucken. „These africant children want the cane“, behauptet sie schlicht.
Was sich zunächst etwas ignorant anhört, scheint in der Praxis tatsächlich einen Teil der Wahrheit zu treffen. So lässt sich öfters beobachten, dass ein Kind nicht bereit ist, sich bei einem anderen Kind zu entschuldigen. Indem es den Cane in Kauf nimmt, kann es Stärke demonstrieren und seinen Stolz bewahren, und so tun die meisten Kinder das Geschlagenwerden mit einem kurzen Lachen ab.
Auffällig ist die darauf zurückzuführende gesteigerte Gewaltbereitschaft der Kinder untereinander. Gewalt ist allgemein anerkanntes Mittel zum Zweck. Schnell wird sich gegenüber Kleineren als Ordnungshüter postuliert, Konflikte werden mit Fäusten ausgetragen, der Stärkere gewinnt. Über die eigentliche Ursache von Konflikten oder den Sinn der Aufstellung von Regeln wird nicht gesprochen, Selbstkritik spielt keine Rolle.
Wie wirkt sich so eine Einstellung auf eine Gesellschaft aus?
Es ist ein typischer, zäh dahin fließender Nachmittag in Agona Swedru ohne besondere Ereignisse, als sich plötzlich eine gespenstische Szene beobachten lässt. Aus dem Nichts entsteht lautstarkes Geschrei, eine aufgebrachte Meute bewaffnet mit Stöckern und Steinen treibt zwischen sich einen nackten Menschen her. Dies sind Momente, in denen man als Ausländer an seine Grenzen stößt. Die eigene Fremdheit wird einem wieder schmerzlich bewusst. Der Mob verschwindet schließlich in einer Seitenstraße und als wäre nichts geschehen, beruhigt sich die Szenerie, die Straße fällt zurück in ihren schläfrigen Zustand. Nach dem Grund des Geschehenes gefragt, gibt der einzige Auskunftswillige zurück, der Mann habe eine Ziege gestohlen. Dafür wurden ihm die Kleider vom Leib gerissen und er durch die Stadt gejagt. „He won't do it again“, ist die schlichte Erklärung. Eine ghanaische Bekannte bestätigt, dass dies gängig sei in Ghana. Diebe, die straffällig geworden sind, würden auch mitunter umgebracht.
Beinahe mehr als dieser Umstand an sich verstört die Tatsache, dass sich niemand an diesem Vorgehen zu stoßen scheint. „This is not Germany!“ – immer wieder begegnet einem dieser Satz und bildet eine scheinbar unüberwindbare Barriere. Man muss sich Fragen stellen, wie: Was für eine Bedeutung hat hier eigentlich eine Ziege? Und was für eine Bedeutung hat das Leben irgendeines einzelnen Mannes? Aber auch – ist es wichtiger, ob eine Gesellschaft funktioniert, oder auf welche Art und Weise?
Es ist schwer, als Außenzustehender zu sagen, was Willkür und was lediglich eine völlig andere Form von Recht ist. Letzten Endes bleibt man immer in den Wänden seines persönlichen Anschauunsapparates gefangen. Dass es etwas gänzlich Anderes, das man weder richtig verstehen noch nachfühlen kann, dennoch geben kann, ist schwer nachzuvollziehen.
Die Menschen hier scheint das Caning und seine Auswirkungen nicht schwächer gemacht zu haben. Im Gegenteil wirken sie insgesamt zufriedener mit sich und stolzer. Gesunder Stolz ist bei uns eine in Vergessenheit geratene Sache. Mit all den Medien, Zeitschriften und Netzwerken, in denen ständig verglichen und verurteilt wird, scheint es schwer zu fallen, sich noch selbst auf natürliche Weise wertzuschätzen, ohne andere herabzusetzen oder arrogant zu wirken.
Woher also kommt diese Haltung hier? Die Gründe dafür mögen vielfältig und vom Einzelfall abhängig sein, und doch gibt es einige Dinge, die auffallen.
Zum Einen ist da der bereits angesprochene geringe Hang zur Selbstkritik, der sich durchaus auch positiv auswirken kann. Denn im Gegensatz zum Caning wird den Kindern im Unterricht auf der anderen Seite auch sehr oft das Selbstwertgefühl gestärkt. Für gute Antworten wird applaudiert, der Lehrplan schreibt vor, dass sie lernen sollen, Dinge zu nennen, die sie an sich mögen.
Ein anderer bedeutender Grund scheint auch der Glaube zu sein, der hier eine sehr große Rolle spielt. Dieser ist nahezu überall präsent, sei es im Religionsunterricht, in fünf Stunden langen Gottesdiensten am Wochenende, Andachten in der Schule und gemeinsamen Gebeten zu vielfältigen Anlässen. Als Atheist wird man mit Missionierungsversuchen oder Mitleidsbekundungen und mindestens mit Unverständnis konfrontiert.
Auch dieses Gottvertrauen ist als Außenstehender wieder schwer nachzuvollziehen. Aber sicherlich kann ein Gefühl von Sicherheit und Zugehörigkeit, Zweifel beiseite schieben, ob man selbst und sein Lebensweg seine Richtigkeit hat.
Letzten Endes ist es schwer zu resümieren, was im Bezug auf das Caning nun richtig oder falsch ist. Auf jeden Fall darf man das Caning, bloß weil bei uns undenkbar, nicht mit Unmoralität oder gar einem schlechten Charakter des Ausübenden gleichsetzen.
Man muss sich wie so oft im Leben bewusst machen, dass man bestimmte Verhaltensweisen nie getrennt für sich alleinstehend betrachten darf, sondern diese immer abhängig sind von ihrem Kontext. Mein Großvater, einer der letzten Zeugen der Zeit, als Deutschland noch den Stock benutze, formuliert das lapidar so: „Früher waren die Leute entsetzt, wenn man nicht prügelte. Heute sind sie es, wenn man schon prügelt.“

Schon ein Siebenkommadrittel

So Ihr Lieben,

Da bin ich dann endlich mal wieder, verzeiht mir, dass ich euch so lange habe warten lassen. Dafür bekommt ihr jetzt sogar gleich zwei Blogeinträge, einen zum Thema "Caning" und diesen hier, in dem ich versuchen werde, halbwegs chronologisch zu berichten, was so passiert ist im letzten Monat. Da das relativ viel war, müsst ihr euch wohl wieder auf einigen Lesestoff bereit machen.
Als allererstes braucht ihr wohl einen kleinen Überblick über die Gesamtsituation. Wie ihr euch vielleicht erinnern könnt, war ich Anfangs mit einigen Dingen nicht so zufrieden, bezüglich der Umgebung und Gastfamilie, und auch wenn ich mich mittlerweile besser damit arrangiert habe und langsam auch richtig das Gefühl habe, hier anzukommen, hat sich daran nicht wirklich etwas geändert.
Auch in der Schule gibt es kaum Aufgaben für mich oder die Möglichkeit, selbst Initiative zu ergreifen. Und auf die Dauer eines Jahres betrachtet, frage ich mich dann doch, ob das so ganz im Sinne von Weltwärts ist.  Dies ist generell ein Thema, worüber wir Freiwilligen viel diskutieren, und die Meisten mit mir einer Meinung sind, dass auf längere Sicht die Projekte und Freiwilligen noch weitaus sorgfältiger ausgewählt werden sollten, wenn man eine Verschleuderung von Steuergeldern vermeiden will. Die wenigsten dieser Bildungsprojekte scheinen wirklich den erhofften Sinn zu erfüllen, sollen und können wir doch auf der einen Seite keine Lehrer ersetzen, hat jedoch auf der anderen Seite kaum eine Schule eine Vorstellung davon, wofür sie eigentlich unsere Hilfe braucht. Und so werden wir meist entweder gleich mit der Klasse allein gelassen - oder eben daneben gesetzt. Wir Abiturienten sind alle keine ausgebildeten Fachkräfte, und meiner Meinung nach wäre unser Einsatz in Nachmittagsaktivitäten, wo wir unsere persönlichen Kenntnisse anwenden und unabhängig vom gewohnten Lerntrott Möglichkeiten zur freien Entfaltung anbieten können, weitaus effektiver.
Durch einen eigentlich unglücklichen Zufall hat sich mir diese Aussicht jetzt ergeben. Es ist so, dass  meine Organisation Kultur Life Freiwillige in zwei verschiedene Projekte entsendet hat, einmal nach Agona Swedru und einmal in die Voltaregion. Dort ist nun unerwartet ein Platz freigeworden und die verbliebene Freiwillige Magda lebt dort momentan allein. Ich habe sie vor knapp drei Wochen besucht und es hat mir so gut gefallen, dass wir gemeinsam mit der Organisation beschlossen haben, dass ich zu ihr ins Projekt wechseln werde.
Die Voltaregion liegt im Osten Ghanas an der Grenze zu Togo und hat eine wunderschöne Natur zu bieten. Mein neuer Wohnort Nkwanta ist ein sehr viel ruhigeres Städtchen als Swedru, eingebettet in Regenwald und umgeben von bewachsenen Bergen, die Ghana von Togo trennen. Unser Freiwilligenhaus liegt etwas außerhalb im Grünen und besteht aus zwei aneinandergereihten Appartments mit den Schlafräumen, Küche, Aufenthaltsraum und Veranda. Das heißt, wir leben dort ein wenig selbstständiger, müssen uns selbst bekochen und mit Eimern in einem kleinen Häuschen abseits duschen. Dafür kann man dabei die umliegenden Berge betrachten und sich die Morgensonne ins Gesicht scheinen lassen...
Wir haben auch eine sehr nette Nachbarsfamilie mit acht Kindern, die ausnahmsweise alle echt gut englisch sprechen.
 Mir ist hier zum ersten Mal bewusst geworden, was für eine unglaubliche Macht Sprache hat. Ich habe die Kinder in der Preschool wirklich gern, aber die kaum mögliche Verständigung blockiert viel im Beziehungsaufbau. Deshalb finde ich es so wichtig, dass sie die Möglichkeit bekommen, diese Sprache zu lernen. All die Diskussionen, ob mit der englischen Sprache fremden Kulturen postkolonial etwas aufgedrückt werde, zielen meiner Meinung nach in die falsche Richtung. Es geht ja nicht darum, dass die eigene Identität ersetzt werden soll, sondern noch unmündigen Kindern die Chance gegeben wird, später einmal frei ihren Lebensweg zu wählen, unabhängig von sprachlichen Barrieren.
Jedenfalls freue ich mich, dass ich so hoffentlich öfters Spaß daran haben werde, mit den Kindern zu spielen, beziehungsweise der Familie zu kochen, und auf diese Weise trotzdem noch ein wenig am ghanaischen Familienalltag teilnehmen kann.
Mein neues Projekt ist das Ghana Education Project, gegründet von der Engländerin Gill. Ich werde hauptsächlich in der Kyabobo Girls School, einer über Spenden finanzierten neuen Mädchenschule, und im dazugehörigen Freizeitzentrum arbeiten. Die Schule wirkte auf mich sehr europäisch in Bezug auf Lehrplan, Ausstattung und Erziehungsmaßstäben, und ist so eigentlich kaum zu vergleichen mit den normalen ghanaischen Schulen. Wichtig und gut finde ich vor allem, dass sie trotzdem beitragsfrei ist und dementsprechend nicht nur wenigen priviligierten Kindern zugänglich ist.
Was fehlt, sind momentan nur noch Lehrer und Helfer, die das Ganze richtig ins Rollen bringen. Magda und ich haben auch schon einige Pläne, mir schwebt eine Musik-AG vor, wir wollten Feste organisieren, einen Geschichtenband erstellen, eine Schülermitverwaltung aufbauen und noch Einiges mehr.
Zur Schule hin und zurück fahren wir mit Fahrrädern, die wir auch mal für Wochenendtouren in die umliegende Natur benutzen wollen.
Also alles eigentlich echt positiv. Das einzige Manko ist, dass man, wenn auch nur 400 Kilometer entfernt, doch meistens zehn Stunden braucht, bis man in Accra ist. Sprich, spontane Wochenendtrips und Treffen mit anderen Volunteers sind dann nicht mehr so leicht möglich. Aber ich habe relativ lange nachgedacht, auch über meine Erwartungen generell an dieses Jahr. Und mir ist klar geworden, dass ich auf die Dauer hier kein touristisches Doppelleben führen möchte, mit europäischen Wochenenden, für die ich nicht nach Ghana hätte fahren müssen, und unterfordernden Wochen.
In Nkwanta habe ich vielleicht weniger Ablenkung, aber dafür eine Aufgabe und die Möglichkeit, mich einmal wirklich mit mir selbst beschäftigen zu müssen und durchzuatmen. Denn letztendlich liegt es ja in meiner Hand, ob ich die Zeit nur totschlage und mich langweile, oder mich einsetze und etwas mache, das sinnvoll und nachhaltig ist.
Vor allem aber habe ich mich gemerkt, dass ich mich dort wohl und zuhause fühle, und das ist vermutlich wesentlich mehr wert, als rationale Begründungen. Denn erst hier wird mir langsam bewusst, dass Produktivität nicht gleich Glück bedeutet. Deshalb versuche ich hier aufzuhören, ständig zu hinterfragen, ob etwas denn so oder so sein kann und sollte, in mein logisches gedankliches System der Welt passt. Manche Dinge machen mich eben einfach froh.
Was die Realität dann entgegen jeder Idylle noch für Tücken zu bieten hat, werde ich euch dann hoffentlich im nächsten Blogeintrag berichten können.

So, wie versprochen möchte ich noch ein wenig über meine Wochenenden berichten, dazu vielleicht passenderweise mal ein paar Anekdoten zum Transportwesen in Ghana. Wie ihr ja vermutlich bereits wisst, bewegt man sich hier hauptsächlich mit TroTros, beziehungsweise für längere Strecken auch mit Bussen fort, in den Orten selber gibt es dann meist Taxis. Wer sich über fünf Minuten Verspätung bei der deutschen Bahn ärgert, dem möchte ich dringlichst raten, einmal nach Ghana zu kommen. Danach wird er sich höchstwahrscheinlich nie wieder beschweren. Als ich in die Voltraregion gefahren bin, habe ich einen tierischen Stress geschoben, weil ich dachte, ich würde den Bus verpassen, der angeblich um halb zehn fahren sollte, denn ich war eine Vierstelstunde zu spät.
 In der Realität habe ich dann fünf Stunden lang auf dem Opera Square gewartet, was aber eine lustige Angelegenheit war, denn man kommt problemlos mit den wartenden Familien ins Gespräch, kann sich am vorbeilaufenden kulinarischen Angebot sattessen und hat immer irgendetwas zu gucken, zum Beispiel die logistischen Wunder Ghanas. Eine Lastwagenladung von Yamwurzeln einfach auf den hinteren Reihen eines Busses verstauen? - Kein Problem. Einen kompletten Umzug per Bus veranstalten? - Na, zu Not kommt ja immer noch das Dach in Frage.
Schließlich sind wir endlich losgefahren und haben irgendwann eine Pinkelpause gemacht, was wohl das Erste war, das in Ghana wesentlich schneller abläuft als in Deutschland. Einfach alle raus, kurz nebeneinander hinhocken, und wieder rein. Zehn Minuten vorm Ziel ist dann ein Laster im Matsch steckengeblieben (das passiert angeblich jedes Mal), also wieder alle raus, schieben, schaufeln, schauen. Dann großer Jubel und jeder rast zu seinem Bus, alle wollen als Erste weiterfahren, nicht, dass noch jemand stecken bleibt...
Zurück nach Accra sind wird dann mit TroTros gefahren, ich hatte an dem Tag einen leichten Magendarminfekt. Ich werde ganz bestimmt nie wieder mit TroTros reisen, wenn mir schlecht ist. Busse federn die Schlaglöcher dann doch ein bisschen besser.
Ein anderes Mal wollten eine Freiwillige, die zu dem Zeitpunkt Malaria hatte, und ich von Cape Coast zurück nach Swedru fahren. Wir wurden stattdessen ersteinmal ausversehen nach Accra gefahren, mit einem eiskalt gekühlten Bus, in dem per übersteuerten Lautsprechern ein ohrenbetäubend lauter und schrecklicher ghanaischer Film gezeigt wurde (ghanaisches Fernsehen ist wirklich noch schlimmer als das Deutsche). In Accra haben wir dann zwei Stunden gewartet, bis das TroTro nach Swedru voll war, und haben uns auf der Fahrt noch einmal zwei Stunden lang von einem Hardcoreprediger vollbrüllen lassen.
Zu guter Letzt: Taxis funktionieren hier in Swedru eher wie Straßenbahnen, haben standardisierte Routen und einen Einheitspreis von 30ct. In größeren Städten sollte man handeln, mindestens um die Hälfte runter, man wird schnell übers Ohr gehauen. Dafür kann man sich aber durchaus auch mal zu siebt in ein Taxi quetschen, der Ghanaer nimmt's gelassen.
Generell wird es einem beim Reisen in Ghana nie langweilig und man kann sich meistens auf ein paar Überraschungen gefasst machen. Aber man hat die Gewissheit, immer irgendwie anzukommen und kann auf die Hilfsbereitschaft der meisten Ghanaer bauen.
Am ersten Wochenende seit dem letzten Eintrag habe ich mit den anderen Freiwilligen aus Swedru Freunde in Accra besucht. Dort haben wir ein ziemliches Kontrastprogramm durchgezogen. Am Vormittag waren wir in der Mall, zu vergleichen mit den deutschen Acarden, womit ich überhaupt nicht gerechnet hatte. Ich war zwar super glücklich einen sündhaft teuren Gouda zu finden, aber generell habe ich mich in der plötzlich so kalten Atmosphäre gar nicht wohl gefühlt. Im Anschluss ging es dann zum Markt, der wie die meisten Orte in Ghana laut, vermüllt und überfüllt und so gar nicht romantisch war. Wer auf den Markt geht, möchte normalerweise irgendetwas kaufen und nicht gemütlich herumschlendern. Dementsprechend gibt es auch keinen Ort zum hinsetzen und längeres Gucken, ohne belagert zu werden, ist auch nicht so leicht.
So richtig Meins war jedenfalls weder die Mall noch der Markt, was vielleicht auch momentan ein bisschen mein Verhältnis zu Deutschland und Ghana wiederspiegelt.
In Deutschland hat mich der hastige reservierte Umgang im Alltag immer genervt, aber hier bekomme ich manchmal das Gefühl, nicht genügend Platz zu haben. Mir ist aufgefallen, dass ich in all meinen Vorstellungen von Ghana immer eher Beobachter war. Dass ich mittendrin sein würde, die Leute mit mir interagieren würden und ich vom Objektiven ins komplett Subjektive driften würde, mit allen Höhen und Tiefen des entromantisierten Alltags, das war mir irgendwie nicht so bewusst. Und nun muss ich herausfinden, wie ich hier hinein passe, was meine Rolle ist.

Dieses Wochenende, voraussichtlich das Letzte hier vor meinem Umzug, werde ich dann wohl das erste Mal in Swedru verbringen, auf eine Geburtstagsfeier gehen, mich verabschieden. Ich bin nochmal bei meiner Kollegin zum Kochen eingeladen, was das letzte Mal total schön war.
Da habe ich das erste Mal echte ghanaische Gastfreundlichkeit kennengelernt. Ich glaube langsam, die Leute, die hier wirklich an einem interessiert sind, sind nicht Diejenigen, die von Anfang an "Buy me this, bring me a gift" sagen, sondern, die einem selber Kleinigkeiten mitbringen. Es vergeht kaum ein Tag, an dem Agnes mir nicht Nüsse, oder Wasser oder Ähnliches schenkt, und so habe ich es mir mittlerweile auch angewöhnt, ihr eine Alvaro (ein sehr leckeres ghanaisches Getränk), eine Schokocreme mitzubringen, oder einfach Fotos von zuhause zu zeigen. Sie freut sich jedes Mal total, und ich mich mit. Ich kann euch nur anregen, einfach den Leuten, die ihr gerne habt, öfters mal eine Kleinigkeit zu schenken, von der ihr wisst, dass die Person sie besonders mag. Das macht den Alltag gleich besonderer und freundlicher.
Eine andere Sache, die ich hier notwendigerweise immer mehr erlerne, ist die Gelassenheit. Mir ist aufgefallen, dass ich einen Großteil meines Lebens damit verbringe, Dinge zu bewerten, zu verurteilen und zu kategorisieren. Das passiert so automatisch, dass mir gar nicht mehr auffällt, wie sehr es mich anstrengt. Viel zu oft ärgere ich mich über Kleinigkeiten, die ich schon nach ein paar Stunden wieder vergessen habe. Natürlich passiert das nicht bewusst, aber ich möchte dafür versuchen, mich bewusst in jeder Situation zu fragen, ob es das gerade wirklich wert ist, mir die Laune davon verderben zu lassen.
Meist nimmt man sowieso viel zu viel persönlich. Normalerweise will einem niemand etwas Böses, sondern jeder möchte einfach nur das Beste für sich selbst (was natürlich ist und sich jetzt schlechter anhört, als es ist) und manche verhalten sich dabei rücksichtsvoller und andere weniger.
Als ich mir am Montag in einer äußerst schmerzhaften und langwierigen Aktion meine Haare zu Braids flechten lassen habe, saß ich irgendwann nur noch wie ein halb skalpiertes Elend auf dem Hocker, und habe mich kurzzeitig wahnsinnig geärgert, dass die fünf um mich herum wuselnden und an meiner Kopfhaut reißenden Ghanaerinnen mich dabei auch noch ständig ausgelacht haben. Aber dann ist mir plötzlich nochmal in den Sinn gekommen, was ich euch im letzten Eintrag geschrieben habe: "When they are laughing, they are happy". Und auf einmal hatte ich das Gefühl, es auf eine gewisse Art und Weise zu verstehen. Wenn dich jemand auslacht, kannst du daran normalerweise nichts ändern. Die Mädchen hatten in dem Moment einfach Spaß daran, über den bemitleidenswerten Obroni in ihrem Haarsalon zu lachen. Aber eigentlich kann mir das nichts anhaben. An dieser Stelle würde ich gerne ein passendes Zitat von How I met your mother anbringen: "Peinlich ist nur etwas, wenn wir Peinlichkeit zulassen". Von daher: Einfach drüberstehen und mitlachen. So öffnen sich einem unglaublich viele Wege, fernab des gradlinigen und meist unbewusst fremdbestimmten Weg des Alltags.
Plötzlich tanzt du auf einer Straßenparty, die sich als Beerdigung entpuppt, isst sündhaft scharfe Indomienudeln, die du dir spontan um Mitternacht am Straßenrand kaufst, lässt dir in einer kleinen Bar irgendwo im Nix al-Qaida (die neue Tanzrichtung schlechthin nach Azonto) von einer tanzwütigen Ghanaerin beibringen. Das Leben hält so viele Überraschungen bereit, und Ghana hat zum Glück einige davon für mich parat.

Also, passt auf euch auf, genießt eure Müslis und Milchprodukte und lasst euch nicht zu sehr vom Regen deprimieren (hier ist Regen übrigens etwas unglaublich Positives, man kann in ihm herumtanzen und sich abkühlen und waschen nach einem heißen Tag, die Früchte sprießen an allen Ecken und werden billiger, und die ganze Welt steht für einen Moment still).

Ich lass bald wieder von mir hören und vermisse euch wie immer.
Eure Léonie